Ausschluss der wissentlichen Pflichtverletzung bei der Verletzung von sog. Kardinalpflichten – öffnet Rechtsprechung D&O-Versicherern Tür und Tor für Deckungsablehnungen?

Jeder, der sich mit Versicherungsbedingungen beschäftigt, kennt den Grundsatz, dass der Versicherer das Vorliegen eines Ausschlusses beweisen muss. Im Rahmen der strengen Darlegungs- und Beweislast des § 286 ZPO muss er grundsätzlich sowohl die objektiven als auch die subjektiven Voraussetzungen eines Ausschlusstatbestandes nachweisen.

Gerade beim gängigen Ausschluss der wissentlichen Pflichtverletzung in der D&O-Versicherung ist es für den Versicherer schwierig, die innere Motivation („Bewusstsein“) einer versicherten Person darzulegen und zu beweisen. Denn verwirklicht ist der Ausschluss der wissentlichen Pflichtverletzung in der D&O-Versicherung dann, wenn ein Versicherter eine Pflichtverletzung in dem Bewusstsein der Pflicht und dem Bewusstsein, sich nicht pflichtgemäß zu verhalten, begangen hat.

Der Versicherer muss Anknüpfungstatsachen aufzeigen, die als schlüssige Indizien für eine wissentliche Pflichtverletzung betrachtet werden können. Erst wenn das (zur Überzeugung des erkennenden Gerichts) gelungen ist, obliegt es dem Versicherungsnehmer bzw. der versicherten Person im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast Umstände aufzuzeigen, aus denen sich ergibt, dass die vorgetragenen Indizien den Schluss auf eine wissentliche Pflichtverletzung gerade nicht zulassen.

Der Vortrag weiterer zusätzlicher Indizien ist für den Versicherer nach Auffassung des BGH (Urteil vom 17.12.2014 – AZ. IV ZR 90/13) aber dann entbehrlich, wenn es sich um die Verletzung elementarer beruflicher Pflichten handelt, deren Kenntnis nach der Lebenserfahrung bei jedem Berufsangehörigen vorausgesetzt werden kann.

Grundsätzlich setzt die Annahme einer elementaren Berufspflicht voraus, dass die von der versicherten Person verletzte Rechtsnorm zu den zentralen, fundamentalen Grundregeln einer bestimmten Regelungsmaterie gehört (vgl. Lange, Vernachlässigte Aspekte des Wissentlichkeitsausschlusses in der D&O-Versicherung, in: VersR 2020, S. 588). Nach dem BGH müssten Art und Umfang der vom Versicherten verletzten Pflicht aus sich heraus auf eine wissentliche Begehung hindeuten.

Offen bleibt aber trotzdem, was genau unter einer elementaren Berufspflicht bzw. einer sog. Kardinalpflicht zu verstehen ist. Der Begriff der „Kardinalpflicht“ ist kein allgemein feststehender Rechtsbegriff und daher auch nicht in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen definiert.

Die Rechtsprechung des BGH ist umstritten, da sie Versicherern keine klaren Grenzen setzt, wann von einer Kardinalpflicht auszugehen ist und wann nicht. Versichereranwälte befürworten im Interesse ihrer Mandantschaft natürlich einen weiten Anwendungsbereich. Anwälte im Lager der Versicherungsnehmer und versicherten Personen warnen vor einem Ausufern und der leichtfertigen Behauptung auf Versichererseite, ein Handeln eines Geschäftsführers schnell als einen Verstoß gegen eine Kardinalspflicht auszulegen und damit den Versicherungsschutz zu verweigern.

Das OLG Frankfurt/Main musste sich in seinem jüngsten Urteil vom 06.07.2022 (7 U 147/20) ebenfalls mit Kardinalpflichten in der D&O-Versicherung befassen und kommt unter Heranziehung der BGH-Rechtsprechung zu folgenden Feststellungen:

Zu solchen Kardinalpflichten, in denen vom äußeren Geschehensablauf und dem Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes auf innere Vorgänge geschlossen werden kann, zählt auch die Pflicht, sich vor Aufnahme einer Tätigkeit wie der Anlagevermittlung und Anlageberatung über den rechtlichen Rahmen und insbesondere etwaige Erlaubnispflichten zu erkundigen. Denn grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass dem Vermittler die Vorschriften, die speziell seine berufliche Tätigkeit betreffen, geläufig sind (Harder, a.a.O., § 20 Rdnr. 501).

….

Nach dem Vortrag der Kläger haben weder der Zeuge Z1 noch die X GmbH über die nach § 32 KWG erforderliche Erlaubnis verfügt und dennoch ihre Geschäftstätigkeit aufgenommen. Sich darüber zu vergewissern, dass der beabsichtigte Geschäftsbetrieb über die erforderlichen Erlaubnisse und Genehmigungen verfügt, stellt aber eine elementare Berufspflicht dar.

…..

Liegt nach dem Vortrag der Kläger die Verletzung einer elementaren Berufspflicht vor, hätte es ihnen oblegen, Umstände aufzuzeigen, warum die vorgetragenen Indizien denSchluss auf eine wissentliche Pflichtverletzung nicht zulassen (BGH, a.a.O.).

Mit der Feststellung des OLG, dass man sich vor Aufnahme einer Tätigkeit über den rechtlichen Rahmen erkundigen muss (hier waren es Erlaubnispflichten eines Anlagevermittlers), kann recht leicht die Schwelle in der möglichen Argumentationskette der D&O-Versicherer überschritten werden, dass es auch zum rechtlichen Rahmen eines Vorstandes oder Geschäftsführers gehört, dass unternehmerische Binnenrecht (Regelungen der Satzung oder Geschäftsordnung) als elementare Berufspflichten zu beachten. Ein objektiver Verstoß dagegen würde dann auch schon bedeuten, dass der Versicherer durch die Verwirklichung des Wissentlichkeitsausschlusses leistungsfrei wäre, ohne dass der Versicherer die subjektive Komponente beweisen muss.

Außergerichtlich wird der Versicherer dies bei der Schadenregulierung mit großer Wahrscheinlichkeit eh tun, aber sich dann auch im Rahmen von Deckungsprozessen auf die Unterstützung durch die bisherige Rechtsprechung verlassen. Die Gefahr erhöht sich, dass im Lichte dieser Rechtsprechung jede Pflicht eines Geschäftsleiters zur „Kardinalpflicht“ erhoben werden könnte und der D&O-Versicherer seine Leistungspflicht verweigert.