Das Berliner Kammergericht hat durch Urteil vom 29.04.2021 (Az.: 2 U 108/18) zwei frühere Aufsichtsratsmitglieder einer insolventen Aktiengesellschaft gesamtschuldnerisch zur Zahlung von rund EUR 1,6 Mio. an den Insolvenzverwalter der Gesellschaft verurteilt. In seinen Entscheidungsgründen hat das KG die Haftung des Aufsichtsrats in sehr anschaulicher Weise dargestellt.

I. In der Vorinstanz hatte das Landgericht noch wie folgt eine Haftung des Aufsichtsrats verneint und argumentiert:

Es fehle vorliegend an einer Pflichtverletzung der Beklagten im Sinne des § 116 AktG. Zwar treffe den Aufsichtsrat eine Pflicht zur Überwachung des Vorstandes gemäß § 111 Abs. 1 AktG. Der Kläger habe hier jedoch viel zu hohe Maßstäbe angelegt. Aus der Überwachungspflicht folge kein allgemeines Misstrauensgebot. Zentraler Streitpunkt sei die Frage nach einer Informationsobliegenheit der Beklagten. Von dem Aufsichtsrat könne insofern keine laufende Überwachung in dem Sinne erwartet werden, dass er einzelne Geschäftsvorfälle, Zahlungseingänge und Buchungsunterlagen prüfe. Das Tagesgeschäft sei gerade nicht erfasst. Schließlich sei das Aufsichtsratsamt ein Nebenamt. Der Aufsichtsrat dürfe sich grundsätzlich auf Informationen des Vorstandes verlassen, so dass das Verhalten der Beklagten nicht zu beanstanden sei. Die Anforderungen an die Überwachungspflicht stiegen erst dann, wenn es eine Krise des Unternehmens oder sonst einen besonderen Anlass gebe. Der Kläger habe aber weder vorgetragen noch sei sonst erkennbar, zu welchem Zeitpunkt oder und durch welches Ereignis die Beklagten eine Krise bei der Schuldnerin hätten erkennen können.

II. Das sah das KG anders und führte zur Haftung des Aufsichtsrats und seinen Sorgfaltspflichten aus:
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Der Aufsichtsrat hat gemäß § 111 Abs. 1 AktG die Pflicht, die Geschäftsführung zu überwachen. Grundlage der Überwachung durch den Aufsichtsrat bildet die Vorstandsberichterstattung, die notfalls durch Fragen, Anforderungsberichte, Einsichtnahme, Prüfungen und Sachverständigentätigkeit ergänzt werden muss.

Der Aufsichtsrat muss die Intensität seiner Überwachung der Lage der Gesellschaft anpassen. Damit er dies kann, muss er stets über hinreichende Informationen über die Gesellschaft verfügen; hierzu hat er insbesondere von den ihm zur Verfügung stehenden Informationsrechten Gebrauch zu machen. Im Allgemeinen genügt der Aufsichtsrat seiner Überwachungspflicht dadurch, dass er neben der Unternehmensorganisation im Allgemeinen und den Kontroll- und Compliance-Systemen im Besonderen sowie dem Jahres- und dem Konzernabschluss nebst Lageberichten und Prüfberichten des Abschlussprüfers die Regelberichte des Vorstands nach § 90 Abs. 1 AktG sorgfältig prüft und mit dem Vorstand erörtert. Dabei hat der Aufsichtsrat darauf zu achten, dass die Regelberichte den gesetzlichen Mindestanforderungen entsprechen.

Nach § 90 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 3 AktG hat der Vorstand über den Gang der Geschäfte, insbesondere den Umsatz, und die Lage der Gesellschaft, vierteljährlich zu berichten. Insoweit hat der Vorstand in Textform und stets über die finanzielle Lage der Gesellschaft, insbesondere ihre Liquidität, zu berichten.  Eingehen muss der Vorstand auf die Markt- und Auftragslage, außergewöhnliche Risiken und Besonderheiten des Geschäftsverlaufs. Erscheinen die Berichte unklar, unvollständig oder inhaltlich unrichtig, hat der Aufsichtsrat nachzufassen und ggf. eigene Nachforschungen anzustellen.

Zur Haftung des Aufsichtsrats gehört auch, dass der Aufsichtsrat sich dabei ein genaues Bild von der wirtschaftlichen Situation der Gesellschaft verschaffen und insbesondere in einer Krisensituation alle ihm nach §§ 90 Abs. 3, 111 Abs. 2 AktG zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausschöpfen muss (BGH, Urteil vom 16. März 2009 – II ZR 280/07).

Den Aufsichtsrat trifft überdies die Pflicht, Verstöße des Vorstands im Sinne des § 93 Abs. 3 AktG zu verhindern (BGH, Urteil vom 16. März 2009 – II ZR 280/07; OLG Brandenburg, Urteil vom 17. Februar 2009 – 6 U 102/07). Ist die Lage der Gesellschaft angespannt oder bestehen sonstige risikoträchtige Besonderheiten, so muss die Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrates entsprechend der jeweiligen Risikolage intensiviert werden (OLG Düsseldorf, Urteil vom 31. Mai 2012 – I-16 U 176/10).

Die Pflicht zur eigenen Urteilsbildung betrifft auch nicht nur den Aufsichtsrat als Gesamtorgan, sondern jedes einzelne Mitglied (OLG Stuttgart, Urteil vom 29. Februar 2012 – 20 U 3/11).

Stellt der Aufsichtsrat fest, dass die Gesellschaft insolvenzreif ist, hat er darauf hinzuwirken, dass der Vorstand rechtzeitig einen Insolvenzantrag stellt und keine Zahlungen leistet, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters nicht vereinbar sind; erforderlichenfalls muss er ein ihm unzuverlässig erscheinendes Vorstandsmitglied abberufen (BGH, Urteil vom 16. März 2009 – II ZR 280/07).

Das Aufsichtsratsmitglied muss nach §§ 116, 93 Abs. 2 Satz 2 AktG auch selbst darlegen und beweisen, dass es seine Pflichten erfüllt hat oder dass ihn jedenfalls an der Nichterfüllung kein Verschulden trifft (BGH, Urteil vom 16. März 2009 – II ZR 280/07). Es ist damit darlegungs- und beweispflichtig für das Vorhandensein eines Informationssystems und dessen sachgerechte Ausgestaltung (vgl. §§ 93 Abs. 2 Satz 2, 116 AktG; hierzu BGH, Urteil vom 1. Dezember 2008 – II ZR 102/07). Fehlte ein nach Sachlage erforderliches und geeignetes Informationssystem, so sind dafür auch die Beklagten aufgrund ihrer Überwachungsaufgabe als Aufsichtsratsmitglieder verantwortlich (§§ 116, 111 AktG).
…“